draught (2019)

"draught" entstand als Auftragswerk für die "Sommerlichen Musiktage Hitzacker 2019".

Das Wort "draught" (engl.) bedeutet einerseits Tiefgang eines Schiffes und ist hier kompositorisch auch gemeint als ein unter der Oberfläche, als ein im Wasser sein und damit ein Vordringen in die Tiefen des Klanges selbst. "draught" bedeutet aber auch Luftzug, Durchzug, Einatmen, ziehen, verziehen und schließlich auch Skizze und Entwurf.

Beide Sphären also, die des Wassers und die des weiten Raumes der Luft und seiner Bewohner im Urstromtal der Elbe sind die klanglichen Ressourcen der Komposition. Ebenso wie die Grenze, die den Raum des Elbtals ehemals getrennt hat, inzwischen aufgehoben ist, sind auch die Grenzen der taktmetrischen Gliederung der Zeit und die Grenzen des Dur-Moll-tonal gegliederten Tonraumes in "draught" nicht relevant.

Die Welle ist wesentliches Prinzip der Gestaltung in Mikro- und Makroform, in horizontaler und vertikaler Dichte: Die kurze Welle des Wassertropfens ebenso wie die Welle der großen, langsam sich bewegenden Dünung, die stetig und unaufhaltsam an dem am Ufer Sitzenden vorbeizieht.

Die motivisch-thematische Arbeit mit heterogenem Klangmaterial tritt hier neben ein richtungsloses, reihendes Fließen. In der musikalischen Reihungsform hat die Reihung von Elementen kein Ziel. Sie strebt ins Unbegrenzte, so wie die Elbe in das unbegrenzte Meer strebt. Und in diesem Sinne scheinen in "draught" akustische Episoden auf, die wie das Treibgut im Fluss langsam vorüberziehen.

Diese akustischen Episoden - wie die Rufe der Kraniche und anderer Bewohner der Luft, die Glocken derKirchen zu beiden Seiten der Elbe in den Städten Dömitz und Hitzacker, ein zufällig vorbeilaufender Hund, das Schnabelklappern der Störche, vorüberziehende Schiffe und die vielfältigen Klänge des Wassers haben sich während der Tonaufnahmen über und unter Wasser im Elbtal zwischen Hitzacker und Schnackenburg im Frühjahr 2019 ereignet. Sie sind weder inszeniert noch wiederholbar und insofern skizzenhaft und nicht endgültig, zugleich aber ähnlich in ihrer Entwicklung, in der Zeit der Stunden, der Tage, der Jahre.

Aus diesen Episoden wurden mit den Mitteln des elektronischen Studios abgeleitete Klänge entwickelt. Klänge mit unterschiedlichen Graden der Verwandtschaft und Abstraktheit, bei denen der Originalklang noch  erkennbar ist, und andere, davon entferntere Klanggestalten, die ihre Herkunft nach den vielfältigen Prozessen der Klangformung mitunter nicht mehr erkennen lassen.

Immer gilt jedoch: Die aufscheinenden, zuweilen vielleicht fremdartig anmutenden Klänge sind alle aus den Klängen des Wasser und der Landschaft entwickelt und somit als Klangmöglichkeit in diesen enthalten. Sie akzentuieren und spiegeln wie in einer Folge skizzenhafter Momentaufnahmen die ständig sich verändernde Landschaft mit ihren vertrauten klanglichen Fixpunkten.

In "draught" bewegen sich die einzelnen Klänge auf individuellen Bewegungsbahnen durch offene und weite aber auch enge akustische Räume. Klangobjekte treten so zueinander in Beziehung und klangliche Gesten und Texturen werden in einem Konzept komponierter räumlicher Kontrapunkte hörbar. Diese Gestaltung der raumbezogenen Klangbewegungen in "draught" ist realisiert in einem mehrkanaligen Raumklang-Verfahren für acht Lautsprecher.

Spatialisierung: Ambisonic, 8-Kanal, 22:10


draught (2019) - Ausschnitt