de monstris epistola (2012)

de monstris epistola entstand im Rahmen des internationalen Kompositionswettbewerbs "Wär' ich ein Ton" zum 250. Geburtstag des Dichters Jean Paul am 21.03.2013.

Die Komposition wurde ausgezeichnet mit dem 1. Preis in der Kategorie "Radiophone Klangkunst".

Ursendung: hr2-Kultur, 25.05.2013.

Elektroakustik, 2-kanal, 23:45


de monstris epistola (2012) - Ausschnitt


Meine erste Bekanntschaft mit Jean Paul fand in der Gymnasialzeit statt. Meine Annäherung als Komponist heute an Jean Paul aus Anlass seines 250. Geburtstages am 21.03.2013 ist nicht nur eine gedankliche, son­dern im Rahmen dieses Projektes auch eine räumli­che, indem ich Orte seiner frü­hen Kindheit und Jugend in Wunsiedel, Joditz, Schwarzenbach und Hof aufgesucht habe. Es gibt natürlich keine akustischen Zeugnisse von Jean Paul selbst und das, was er zu seiner Zeit gehört haben könnte und was davon heute noch zu hören ist, ist we­nig und zudem gleichsam akustisch ver­schüttet unter dem Rauschen unserer Zivilisation im einundzwanzigsten Jahrhundert. Ich konnte also keine Einheit der Zeit, wohl aber eine annähernde Einheit des Ortes herstellen, um an diesen für den Dichter biografisch so prägenden Orten heute Tonaufnah­men zu machen und sie unter Aspekten Jean Paulscher Poetik mit kompositorischen Mitteln bearbeiten.

Dem romantischen Streben nach der Synthese zwischen Poesie und Wirklichkeit im Werk Jean Pauls, entsprechen in dieser Komposition die Synthese zwischen Hörbarem der heutigen akustischen Realität an den Orten der Kindheit und Jugend, sowie akustisch potentiell darin Enthaltenem und von mir dort hinein Gedach­tem. Vertrautes und Frem­des gleichermaßen und gleichzeitig. Es kommt zu einem Wechselspiel zwischen heutiger akusti­scher Realität und daraus abgeleiteter und imaginierter akustischer Sphäre. Der nahe Raum der akusti­schen Anschauung verschmilzt so mit dem zeitlich Fernen und schafft damit Raum für Erinne­rung als sinnliches Erleben.

Das Einbre­chen der Imagination in die "normale" Welt, wie sie beispielhaft und ins Groteske gestei­gert in der Beschreibung des Kampfes um den achtläufigen "Doppelhasen" (Dr. Katzenbergers Badereise, 15. Summula) darge­stellt ist, ist gespiegelt durch das Eindringen der elektronischen Klangwelt in die reale akustische Welt der heutigen Orte. Zu dieser gehören die vielfältigen Klänge der Kirchenglocken und des Wassers (die Saale, Wasserspiele, die zahlreichen Brunnen besonders in Wunsiedel) ebenso wie die Klänge des Alltags auf dem Lande und in der Stadt, das selbstvergessene Spiel der Kinder, Passanten, Gespräche, Straßenverkehr, Landwirtschaft, Handwerker.

Das Prinzip der Doppelung, das Spiegelmotiv hat Jean Paul viel beschäftigt. Er war der Auffassung, "dass zwei ähnliche oder gleichartige Ereignisse, Zustände gewöhnlich auf einander folgen, die mit einem drit­ten, der mit ihnen auf irgend eine Weise ver­wandt, im Gegensatze stehen oder das Widerspiel von ihnen ist". Verdoppelung und Wiederholung sind nicht Abbild, sondern Widerschein des Vergangenen im Moment der Erinnerung. Die Verbindung zweier ähnlicher Elemente mit einem dritten, kontrastierenden Element führt zu drei akustischen Ebenen in dieser Komposition, die häufig zeitgleich zu hören sind. In der Verbindung aller drei akustischen Ebenen, der narrativen Ebene der äußeren Welt und zweier anderer Ebenen der inneren Welt, wird die Nähe ebenso deutlich wie die Distanz, mit der wir heute das Werk Jean Pauls und die Bedingungen, unter denen es entstanden ist, lesen. Beides, Klang und Wort, nimmt Gestalt an nur in unseren Köpfen.

Der Titel der Komposition – de monstris epistola - verweist nicht nur auf die Gespensterfurcht des Kindes Jean Paul, sondern allgemein auf künstlerische Erfindung - namentlich die unsichtbarer Klänge - und geht zurück auf die schon erwähnte 15. Summula aus Jean Pauls "Dr. Katzenbergers Badereise".